Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Roman.
Gabriele Tergit, btb Verlag, 9. Oktober 2017

Käsebier erobert den Kurfürstendamm

Dabei wollte er einfach nur singen ...

Es ist viel los in der Hauptstadt: Menschen kommen nach Berlin, um ihre "Projekte" zu verwirklichen, die Immobilienhaie entkernen die Quartiere und treiben die Gentrifizierung voran, die Printmedien befinden sich in der Krise, die Stadt ist heiß und in permanenter Bewegung, man beobachtet skeptisch, aber auch nicht ohne sarkastisches Amüsement das Erstarken der neuen, braunen Bewegung - und alle sind ständig auf der Suche nach dem nächsten Trend (oder einem Partner für die kommende Nacht).
Nein, wir schreiben nicht das Jahr 2016, sondern befinden uns im vorigen Jahrhundert, genauer im Jahr 1929. Erstaunlich, aber scheint mehr Parallelen als Unterschiede zu geben.

Die Redakteure der "Berliner Rundschau", darunter der fast schon legendäre Chefredakteur Miermann ("Er war ein Ästhet, aber nicht für sich selber"), müssen täglich bis halb fünf das abliefern, was in den Satz soll. Als Lückenbüßer dient da mal ein alter Beitrag über den Matsch auf den Straßen, dann wieder ein Text, den die - weniger angesehenen - Varietékritiker abgeliefert haben, während die etwas hochnäsigen Theaterkritiker noch in den Betten lagen. So kommt es, dass eine Konzertbesprechung über den Volkssänger Käsebier, der seit einer Weile in der Neuköllner Hasenheide auftritt, Woche um Woche verschoben wird. Georg Käsebier ist eigentlich nichts Besonderes, singt von kleinen Leuten, singt auch nicht unbedingt extrem gut, aber er kommt an, begeistert sein Publikum, er macht den Menschen Spaß und unterhält sie vortrefflich. Als der Text schließlich mit fast einem Vierteljahr Verspätung erscheint, füllt er ein Nachrichtenloch. Und alle springen an, so dass der Sänger fast über Nacht zum Star wird - und seine Schlager wenige Wochen später überall zu hören sind. Ein absurder Hype setzt ein, es gibt ausverkaufte Konzerte im Wintergarten, neue, von einem Tag zum anderen auf den Markt geworfene Bücher über den Sänger, dazu Käsebier-Zigaretten, Käsebier-Schuhe und, kaum zu glauben, Käsebier-Gummipuppen. Und ein paar Investoren, die am Kurfürstendamm etwas "Terrain" übrig haben, das man jetzt nutzen könnte, um dort Luxuswohnungen und ein Käsebier-Theater zu bauen. Dabei warnen nicht wenige, dass die Zeit der Zehn-Zimmer-Herbergen vorbei wäre. Dass es auf kompaktes Wohnen und hohe Qualität ankäme. In Britz entsteht zu dieser Zeit die Hufeisensiedlung, selbst der Geldadel schaut auf den Pfennig - und überhaupt scheint die politische Lage alles andere als stabil zu sein.

Gabriele Tergit - der Name war übrigens ein Pseudonym von mehreren - war in den Zwanzigern Journalistin in Berlin, schrieb vor allem Gerichtsreportagen und Berichte. "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" erschien 1931 im Rowohlt-Verlag und war nicht ihr einziger, aber ihr bekanntester Roman, der später mehrfach wiederveröffentlicht wurde. Der Erzählstil ist verblüffend gefällig und zeitlos, obwohl es ein sehr umfangreiches Personal gibt, die Perspektive oft wechselt und sich etwas belanglose Dialoge mit recht dramatischen Szenen abwechseln. "Käsebier" ist einerseits eine Milieustudie, obwohl Tergit das seinerzeit vermutlich nicht beabsichtigt hatte, andererseits und vor allem aber ein Manifest gegen das, was wir heute "Hype" nennen. Die Autorin hat das Buch als eine "Anklage gegen die Reklame" bezeichnet. Der arme Käsebier, selbst nicht in all die Vorgänge involviert, die ihn zu Geld machen sollen, weiß kaum, wie ihm geschieht, will er doch nur singen. Alle anderen jedoch wollen profitieren, und dass die Chose böse enden wird, ist vorhersehbar, nichtdestotrotz sehr spannend zu lesen. Was die Autorin ganz sicher nie beabsichtigt hatte - wie auch? -, das sind die Parallelen zur Jetztzeit. Und nicht nur am Rande spielt die sich in positiver Weise verändernde Position der Frau in der Gesellschaft ihrer Rolle, eine Entwicklung allerdings, die durch das vor der Tür stehenden Dritte Reich ganz erheblich abgebremst werden wird. Diese dunkle Vorahnung ist im Buch allerdings bereits deutlich zu spüren.

Wer sich auf das anfangs ein wenig sperrige und auch später nur auf sehr leise Art spektakuläre Buch einlässt, wird einen verblüffend aktuellen Text über das Berlin nicht nur der Zwanzigerjahre lesen können. Natürlich merkt man dem Roman an, dass er vor fast hundert Jahren entstanden ist, als Autoren noch nicht von Plots, Subplots, Hooks, Cliffhangern und Pitches gefaselt haben, aber "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" funktioniert auch neunzig Jahre nach der Erstveröffentlichung noch ziemlich gut, und zwar längst nicht nur als zeitgeschichtliches Dokument.

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pfeil Übersicht: Tom Liehr

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